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Stuttgarter Kickers: Furioses Finale nach einer jahrelangen Leidenszeit

Rückblick einer acht Jahre währenden Phase von Rückschlägen endet mit Aufstieg.

Stuttgarter Kickers: Furioses Finale nach einer jahrelangen Leidenszeit

Enzo Marchese leistete viel in seiner Karriere für die Stuttgarter Kickers - ausgerechnet sein verschossener Elfmeter am 19. September 2015 beim SV Wehen Wiesbaden läutete die jahrelange Talfahrt der Blauen ein - die nun mit dem Aufstieg in die Regionalliga endlich vorbei ist. Fotos: Pressefoto Baumann/Hansjürgen Britsch; Julia Rahn

AIs für die Stuttgarter Kickers am 6. Mai schon während des Oberligaspiels beim SSV Reutlingen die letzten rechnerischen Zweifel am Sprung in die Fußball-Regionalliga beseitigt waren, begann ein Party-Marathon in Blau. Der gestaltete sich besonders ausgelassen. Warum? Weil der Aufstieg das Ende einer langen Leidenszeit bedeutet, die im September 2015 ihren Anfang nahm. Wir blicken auf die vielen Nackenschläge zurück.

Es war die Zeit, als die Stuttgarter Kickers sich auf dem besten Weg befanden, wieder viele Sympathien auf sich zu vereinen. Als Drittliga-Vierter waren sie am Ende der Saison 2014/15 nur haarscharf an den Relegationsspielen zur zweiten Liga vorbeigeschrammt.

In der darauf folgenden Runde führten die Blauen eine Woche nach dem packenden Flutlichtspiel gegen den 1. FC Magdeburg vor 6300 Zuschauern auch am neunten Spieltag beim SV Wehen Wiesbaden mit 3:1. In der Blitztabelle standen sie an diesem 19. September 2015 auf Platz zwei.

Der Traum vom Zweitliga-Aufstieg lebte. Dann vergab Enzo Marchese in der 66. Minute einen Foulelfmeter zum möglichen 4:1. Die Partie endete 3:3.

Marchese leicht genervt

Siebeneinhalb Jahre später wirkt Enzo Marchese, der am 19. Mai seinen 40. Geburtstag feierte, immer noch ein kleines bisschen genervt, wenn er auf diesen Elfmeter angesprochen wird: ,,Er war gut geschossen, gut gehalten - und wir hatten danach noch neun Monate Zeit, nicht abzusteigen", sagt der frühere Kickers-Kapitän. Er hat viel für den Verein geleistet und irgendwelche Schuldvorwürfe hat ihm nie jemand gemacht.


Dennoch, und sicher auch mit einem Augenzwinkern betrachtet, steht fest: Mit dieser Elfer-Niete begann ein beispielloser Absturz. Nach dem verschenkten Sieg in Wehen verloren die Kickers sechsmal hintereinander. Am 4. November 2015 trennten sich die Kickers von Trainer Horst Steffen (aktuell SV Elversberg), der Wochen zuvor noch zum Bleiben überredet worden war. Ihm hatte ein Angebot des damaligen Zweitligisten TSV 1860 München vorgelegen, der Wechsel hätte den Kickers eine satte Ablösesumme eingebracht.

Ein klarer Fall von hinterher ist man immer schlauer. Der damalige Sportdirektor Michael Zeyer holte Tomislav Stipic als Steffen-Nachfolger und baute in der folgenden Winterpause den Kader radikal um. Das Aussortieren blauer Urgesteine, die zumindest ihr Kämpferherz am rechten Fleck hatten, ging weiter: Nach Spielern wie Julian Leist, Nick Fennell, Patrick Auracher, Fabio Leutenecker traf es nun auch Enzo Marchese und Gerrit Müller. Am Ende stand trotz eines Sechs-Punkte-Vorsprungs zwei Spieltage vor Schluss der dramatische Abstieg. Die Schockstarre nach dem 0:1 am letzten Spieltag am 14. Mai 2016 gegen den Chemnitzer FC bleibt für alle Kickers-Fans unvergessen.

Trennung von Zeyer

Die Blauen hatten für den unerwarteten Abstieg in die Regionalliga für die Saison 2016/17 keinen richtigen Plan B, sie hielten an Zeyer als Sportdirektor fest, schickten dafür bis auf Sandro Abruscia alle Spieler weg. Am 20. Oktober 2016 kam es zur Trennung von Zeyer. Vier Tage später folgte nach einem 1:2 beim FC Nöttingen der Rauswurf von Coach Alfred Kaminski. Im unerfahrenen Tomasz Kaczmarek kam erneut eher ein Trainertyp der Marke Theoretiker, der zudem ohne Sportlichen Leiter an seiner Seite, viel zu lange allein gelassen wurde.

Fünf Tage nach dem Klassenverbleib am Ende der Saison 2016/17 folgte im Wohnzimmer Gazi-Stadion das Desaster im WFV-Pokalfinale mit dem 1:3 gegen den damaligen Landesligisten SF Dorfmerkingen. Die Enttäuschung nahmen die Blauen mit in die neue Saison. Obwohl jeder ahnen konnte, dass es dem Kader vor allem an körperlichrobusten Führungsspielern mangelt, kamen wieder nicht die richtigen Neuzugänge.

Tiefpunkt Oberliga-Abstieg

Am 17. Oktober 2017 musste Kaczmarek gehen, der Krisenmodus blieb - als die einzige Konstante. Erst im November holten die Blauen in Martin Braun einen neuen sportlichen Leiter. Weder die Winterneuzugänge noch die verpflichteten Trainer Paco Vaz und Jürgen Seeberger konnten das drohende Unheil aufhalten. Es folgte der Abstieg in die Oberliga, so tief war der ehemalige Bundesligist in seiner Vereinshistorie noch nie gefallen.

Im ersten Fünftligajahr 2018/19 kamen die Kickers unter Trainer Tobias Flitsch mit fünf Punkten Rückstand auf Meister Bahlinger SC als Zweiter ins Ziel. In der Aufstiegsrunde scheiterten die Blauen am FC Bayern Alzenau. Es folgte 2019/20 der Neustart mit Trainer Ramon Gehrmann und dem Sportlichen Leiter Lutz Siebrecht, der mit den richtigen Personalentscheidung begann, die Wendeltreppe nach oben zu bauen. Eine Mischung aus Pech und Schicksal blieb ein treuer Begleiter der Kickers. Coronabedingt musste die Saison nach 21 Spieltagen abgebrochen werden.

Drama in Dorfmerkingen

Tabellenführer VfB Stuttgart II stieg auf, eine Aufstiegsrunde gab es nicht. 2021/22 folgte im September 2021 der Trainerwechsel von Gehrmann zu Mustafa Ünal und das Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem am Ende punktgleichen SGV Freiberg. Wegen der schlechteren Tordifferenz gingen die Blauen als Zweiter durchs Ziel. Unvergessen das Drama am 4. Juni 2022 in Dorfmerkingen, als sich die Kickers nach einer Fehlinformation aus Nöttingen schon im siebten Himmel wähnten, dann aber ins tiefe Tal der Tränen stürzten, als bekannt wurde, dass der SGV Freiberg in der Nachspielzeit doch noch den 2:1-Siegtreffer erzielt hatte.

Die traumatisierte Kickers-Familie um den leidgeprüften Präsidenten Rainer Lorz schüttelte sich - und ab ging's in die Aufstiegsrunde. Wie schon in Alzenau scheiterten die Kickers - diesmal an Eintracht Trier, als die Blauen nach zwei Gelb-Roten Karten in doppelter Unterzahl nur zu einem 1:1 kamen.

Jetzt haben die Kickers im Aufzug endlich wieder den richtigen Knopf erwischt. „Wir waren jahrelang gebrandmarkt und unsere Fans haben so lange gelitten. Dieser Aufstieg bedeutet so unglaublich viel für den Verein", sagt Marchese, der sich seit Sommer 2021 bei den Kickers ums Sponsoring kümmert und dessen Elfmeter-Niete von Wehen endgültig in der Mottenkiste verschwinden kann. Jürgen Frey